Ein Plädoyer gegen Definitionen

Mich stört die deutsche Tendenz, immer erstmal alles definieren zu wollen. Ich halte es für ein Unding, vor jeder interessanten Diskussion im Rollenspielbereich Zeit damit zu verschwenden, die genutzten Begriffe in Regeln zu pressen.

Beitragsbild Plädoyer gegen Definitionen

Ich weiß, Definitionen haben den Ruf, hilfreich zu sein. Sind sie aber nur selten. Meistens sind sie gleich in doppelter Hinsicht problematisch.

  1. Definitionen helfen dir nicht, ein Wort zu begreifen, denn so lernen wir Sprache nicht. Wir lernen durch Beispiele.
  2. Sprache funktioniert nicht über Definitionen. Worte lassen sich nur selten in eindeutige Regeln runterbrechen, sodass immer klare wäre: Wenn exakt diese und jene Bedingung erfüllt ist, dann handelt es sich ohne Zweifel um Wort X. Nein, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist schwammig und wird ausschließlich dadurch bestimmt, wie wir sie verwenden.

Um jemandem ein Wort zu erklären, hilft der Weg über Familienähnlichkeiten wesentlich weiter als der über Definitionen.

Ich erläutere das am besten an einem Beispiel.

Begriffsdefinition: Powered by the Apocalypse

Stell dir vor, du möchtest definieren, wann ein Rollenspiel ein Powered by the Apocalypse (PbtA) Rollenspiel ist.

In meinem Brindlewood-Bay Artikel schlage ich folgende Kriterien vor:

  • Man redet nicht von “Proben”, um zu sehen, ob eine Aktion erfolgreich ist, sondern von “Spielzügen“,
  • Spielzüge haben nicht nur Erfolg und Misserfolg, sondern noch Teilerfolge,
  • PbtA-Spiele geben sehr viel Erzählrecht an die Spieler*innen ab.

Man könnte das noch sinnvoll erweitern um folgende Punkte:

  • Es wird mit 2W6 + Modifikator gewürfelt,
  • hoch würfeln ist gut.

Wenn ich diese Kriterien nutzen würde, um eine Definition aufzustellen, wäre das Ergebnis:

Ein Rollenspiel ist genau dann ein PbtA-Rollenspiel, wenn viel Erzählrecht bei den Spieler*innen liegt, wenn Proben “Spielzüge” genannt werden, wenn mit 2W6 + Modifikator gewürfelt wird und dabei hohe Ergebnisse gut sind, und wenn es Teilerfolge gibt.

Echte PbtA-Expert*innen sehen schon gleich das erste Problem mit dieser Definition: Kult ist ein PbtA-Spiel, das nicht mit 2W6, sondern mit 2W10 gewürfelt wird. Alle anderen Kriterien erfüllt es.

Ich könnte jetzt die Definition aktualisieren und anstatt “2W6” verlangen, es müssten “2WX” sein. Soweit kein Problem, die Definition war einfach nur nicht gut genug. Jetzt sitzt sie aber. Oder?

Nein, leider werde ich die Definition immer weiter anpassen müssen, je mehr Beispiele ich mir aus den Fingern sauge.

Das Lottenheimer PbtA

Stell dir bitte ein fiktives Rollenspiel vor, das fast alle Kriterien erfüllt, die ich bisher aufgestellt habe. Nur das Wort “Spielzüge” taucht im Regelwerk nicht auf. Sagen wir, es heißt Lottenheimer und man spielt Tierbegleiter und Haustiere von SCs, die vor dem Dungeon vergessen wurden, und nun auf der Suche nach Snacks sind. Lottenheimer gibt viel Erzählrecht an die Spielenden ab. Es wird mit 2W6+Niedlichkeit gewürfelt. Bei einem Teilerfolg findet man zwar Snacks, aber die Niedlichkeit leidet.

Wenn sich Lottenheimer “PbtA” aufs Cover schreibt, dürfte niemand meckern.

Heißt das, das Kriterium “Spielzüge” ist nicht wichtig für PbtA? Wenn ich die Definition entsprechend anpasse, und auch Kult berücksichtige, sind wir bei:

Ein Rollenspiel ist genau dann ein PbtA-Rollenspiel, wenn viel Erzählrecht bei den Spieler*innen liegt, wenn Proben “Spielzüge” genannt werden, wenn mit 2WX + Modifikator gewürfelt wird und dabei hohe Ergebnisse gut sind, und wenn es Teilerfolge gibt.

Bis hierhin ist das der ganz normale Weg, wie man eine Definition aufstellt. Man legt Kriterien fest, tröpfelt Beispiele drauf, aktualisiert die Kriterien, und kommt so irgendwann bei einer Formulierung an, die wasserfest ist.

Zwei solcher Aktualisierungen machen wir noch ganz fix. Dafür dichte ich Lottenheimer ein wenig um.

Lottenheimer 2E

Stell dir vor, Lottenheimer wird nicht mit 2W6+Niedlichkeit gewürfelt, sondern 2W6+Hunger. Hohe Ergebnisse sind hier immer schlecht, weil das Tier die Kontrolle über sich selbst verliert, wenn es zu hungrig ist. Es geht in dem Spiel also darum, den Hunger-Wert abzubauen. Alles andere bleibt gleich.

Wenn du mir zustimmst, dass auch Lottenheimer 2E ein waschechtes PbtA sein könnte, folgt daraus: Für die Definition ist das Kriterium “hohe Ergebnisse sind immer gut” nicht zentral. Das kann also weg.

Ein Rollenspiel ist genau dann ein PbtA-Rollenspiel, wenn viel Erzählrecht bei den Spieler*innen liegt, wenn mit 2WX + Modifikator gewürfelt wird und dabei hohe Ergebnisse gut sind, und wenn es Teilerfolge gibt.

Lottenheimer 3E

Stell dir vor, wir hätten lange genug mit der 2E gespielt, um zu erkennen, dass 2W6+Hunger aus Balancing-Gründen nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt. Eine neue Version muss her.

In Lottenheimer 3E gibt es Hunger noch, aber er ist kein Modifikator des Würfelergebnisses mehr. Stattdessen bestimmt Hunger die Menge an W6, die gewürfelt werden. Bei einem Hunger-Wert von 3 würfelt man also nicht mehr 2W6+3, sondern 3W6.

Wenn du mir zustimmst, dass auch Lottenheimer 3E Powered by the Apocalypse sein könnte, lernen wir daraus: Die Anzahl der Würfel ist genau so egal wie die Art der Würfel.

Die aktualisierte Definition lautet also:

Ein Rollenspiel ist genau dann ein PbtA-Rollenspiel, wenn viel Erzählrecht bei den Spieler*innen liegt, und wenn es Teilerfolge gibt.

Spätestens an dieser Stelle treten zwei unüberwindbare Schwierigkeiten auf.

Schwierigkeit 1: Die Definition ist zu durchlässig

Leider ist die Definition unbrauchbar geworden. Zwar trifft sie auf alle gängigen PbtAs zu, von Dungeon World bis Lottenheimer 3E, aber: Sie kann nun auch auf Rollenspiele zutreffen, die gar keine PbtAs sind.

Fate zum Beispiel erfüllt beide Kriterien:

  1. Es kennt “Erfolg mit einem Haken”, also Teilerfolge,
  2. es erlaubt den Spieler*innen viel Erzählrecht.

Trotzdem würde niemand Fate als PbtA bezeichnen.

Wenn Fate alle Kriterien erfüllt, und trotzdem kein PbtA ist, heißt das: Die Definition ist inzwischen falsch. Richtig wird sie nur, wenn aus genau dann nur noch ein dann wird. Ich muss sie also so umformulieren:

Wenn es PbtA ist, dann liegt viel Erzählrecht bei den Spieler*innen, und es gibt Teilerfolge.

Das ist keine Definition mehr, die uns hilft, zu erkennen, wann ein Rollenspiel ein PbtA ist. Sie hilft uns nur noch, zu erkennen, was es bedeutet, wenn ein Rollenspiel bereits als PbtA identifiziert wurde.

Schwierigkeit 2: Kein Kriterium ist unantastbar

Wir haben auf dem Weg viele Kriterien verloren. Waren die denn gar nicht wichtig?

Und was ich eine noch spannendere Frage finde: Sind wir uns sicher, dass diese letzten beiden Punkte nicht auch verschwinden könnten?

Über die Teilerfolge bei PbtAs wird zum Beispiel oft gestöhnt, denn für viele SLs ist es schwierig, sich hier spontan eine Komplikation einfallen zu lassen. Vielleicht kann ich diese SLs begeistern für mein nächstes fiktives PbtA: Die Zahnräuber vom Schlotterberg.

Darin geht es um vom Zahnausfall geplagte Vampire, die Ersatzzähne rauben. Sehr viel Erzählrecht liegt bei den Spieler*innen, die mit ihren Spielzügen bestimmen können, in welcher Situation sie ihre Opfer vorfinden, und um wen es sich dabei handelt. Gewürfelt wird mit 2W6 + Modifikator. Nur gibt es keine Teilerfolge, denn die nerven nur.

Wenn du mir so weit folgst, und zustimmst, dass Die Zahnräuber vom Schlotterberg trotzdem ein PbtA sein könnte, dann wirst du mir auch zustimmen, dass die bisher aufgestellte Definition sich in Luft aufgelöst hat. Einzig das aufgeteilte Erzählrecht bleibt. Abgesehen davon gilt: Alle Kriterien können fallengelassen werden. Alles verpufft.

Oder?

Familienähnlichkeiten

Nur weil jedes einzelne Kriterium fallengelassen werden kann, heißt das nicht, dass alle Kriterien gleichzeitig fallengelassen werden können.

Willkommen bei Wittgensteins Familienähnlichkeiten, und willkommen in meinem Kurs Sprachphilosophie für Rollenspieler*innen.

Ja, das war alles nur ein Trick, um dir was beizubringen. Und du bist mir voll in die Falle gegangen.

Familienähnlichkeiten Stimmungsbild

Mitglieder einer Familie sehen sich oft ähnlich. Aber nicht durchgehend mit denselben Ähnlichkeiten.

In einer Familie hat nicht jede*r die gleiche Nase, oder auch nur eine ähnliche Nase. Trotzdem können viele Familienmitglieder mit Nasen-Ähnlichkeiten ausgestattet sein. Andere Familienmitglieder haben ähnliche Ohren. Von diesen wackeln einige auf die gleiche Weise beim Lachen mit den Nasenflügeln. Viele Mitglieder dieser Familie sind eher großgewachsen, aber es gibt auch einige, die eher klein daher kommen. Von den Großen haben einige, aber nicht alle, die typische Nase.

Es gibt nicht ein Merkmal, das die gesamte Familie miteinander verbindet. Es gibt viele Merkmale. Aber nicht jede*r muss jedes dieser Merkmale besitzen, um eine Familienähnlichkeit aufzuweisen. Es reicht, wenn man signifikant viele dieser Merkmale besitzt.

Und genau so verhält es sich mit powered by the Apocalypse: PbtA ist eine Familie von Spielen.

Eine Definition, die versucht, Regeln einzufangen, wann genau ein Spiel dieser Familie zuzurechnen ist, kann nur scheitern. Denn nicht jedes Familienmitglied gleicht jedem anderen Familienmitglied auf die gleiche Weise. Genausowenig gleicht jedes PbtA jedem anderen PbtA auf die gleiche Weise.

Stattdessen gibt es eine Reihe von Merkmalen, die PbtAs ausmachen (Erzählrollenspiel, 2W6+, Teilerfolge, etc.). Ein Spiel muss nicht all diese Eigenschaften erfüllen, um PbtA zu sein. Es muss nur ausreichend viele erfüllen, damit man eine Familienähnlichkeit erkennt.

Was hier für PbtA gilt, gilt natürlich auch für alle anderen Begriffe.

Einwände

Ich bin sicher, du hast hier viele Einwände. Gute Beispiele zu finden, ist schwierig. Ich hoffe, du siehst trotzdem das darunterliegende Argument.

Ein solcher Einwand könnte sein: “PbtA zu definieren, war aber von vorneherein zum Scheitern verurteilt, denn Vincent Baker selbst schreibt: Each new PbtA game changes and expands what ‘PbtA’ means and includes.” – Ja. Das unterstreicht meinen Punkt, wie nutzlos Definitionen sind. Denn Sprache ist nicht starr.

Ein weiterer Einwand könnte sein: “Florian, du hast eigentlich nur gezeigt, dass PbtA keine eindeutige Kategorie ist, die durch fixe Merkmale bestimmt wird, sondern dass alles PbtA ist, was sich so nennen möchte.”

Ich hoffe, dass das nicht die Erkenntnis ist, die du aus diesem Artikel mitnimmst. Nur weil Wittgensteins Familienähnlichkeiten eine gewisse Schwammigkeit und unscharfe Grenzen erlauben, heißt das nicht, dass es keine sinnvollen Grenzen gibt. Wenn sich Numenéra oder Shadowrun 5E demnächst PbtA nennen würden, sollte das für Irritationen sorgen.

Aber ich kann mit deinem Einwand leben, wenn du ihn als ein Beispiel dafür nutzt, zu zeigen dass knallharte Begriffsdefinitionen in vielen Fällen unbrauchbar sind. Wenn du mir jetzt noch zustimmst, dass es sinnvoller ist, sich mit Beispielen und Familienähnlichkeiten zu verständigen, wenn man Begriffe erklären möchte, dann hast du genau das begriffen, was ich hier kommunizieren wollte. Und das ist folgender Appell:

Hört auf, Begriffe zu definieren. Fangt an, Begriffe zu erklären.

Wozu das Ganze?

Warum ich darauf so herumreite?

Weil ich es einfach nicht mehr hören kann, wie eigentlich interessante Fragestellungen kaputtgedeutscht werden, weil bisher niemand die richtige Definition für Railroading gefunden hat. Nur weil es keine klare Definition gibt, die alle Fälle abdeckt, heißt das nicht, dass es kein hilfreicher Begriff ist, mit dem keine wertvollen Diskussionen geführt werden können.

Dasselbe gilt für den Versuch, Erzählrollenspiele, OSR und Trad-Games voneinander abzugrenzen. Ein spannendes Thema, dem es absolut nicht hilft, diese Begriffe zu definieren. Was hilft, ist, sich grob darüber zu verständigen, ob auch alle von derselben Sache reden. Gerade da helfen Beispiele aber viel weiter als Lexikon-Einträge.

Wenn du das nächste Mal in einem Podcast eingeladen bist, und ihr euch über ein Thema unterhaltet, tut mir den Gefallen: Beginnt nicht damit, zu definieren, was zum Beispiel Crunch ist. Erklärt es einfach. Zeigt ein paar Beispiele, wie man den Begriff, um den es geht, verwendet. Umreißt vielleicht noch den Kontext, in dem es hilfreich ist, dieses Wort zu benutzen. Und dann hört auf, hilfreiche Begriffe zu zerlegen, nur weil sie nicht trennscharf sind, oder weil ihr keine eindeutigen Spielregeln findet, nach denen sie funktionieren.

Fazit

  • Die Bedeutung eines Wortes wird bestimmt durch die Art und Weise, wie das Wort verwendet wird. (Nein, die Bedeutung wird nicht durch den Duden festgelegt.)
  • Wie ein Wort verwendet wird, ist nie starr und eindeutig, sondern immer irgendwie schwammig und im Fluss.
  • Deshalb sollte jede Erklärung eines Wortes genug Raum lassen für diese Schwammigkeit.
  • Definitionen sind von Haus aus ungeeignet dafür. Denn Definitionen sind immer starr und eindeutig.
  • Also: Um zu erklären, wie ein Wort verwendet wird, sollte man es nicht definieren. Man sollte lieber seine Verwendung aufzeigen.

2 Kommentare zu Ein Plädoyer gegen Definitionen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Inhalt