Du spielst DSA falsch!
Na, Puls schon bei 180? Okay, dann habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit und kann erstmal zurückrudern. Ich weiß natürlich gar nicht, wie du DSA spielst, und ich kann mir kein Urteil darüber erlauben, ob du es richtig spielst oder nicht. Aber ich wage hier trotzdem eine steile These, bei der der Puls gleich wieder steigen dürfte:
Man kann DSA falsch spielen. Mehr noch: Man kann Rollenspiel generell falsch spielen!
Und das geht so: Wenn man überhaupt keinen Spaß hat, dann macht man offensichtlich etwas grundsätzlich falsch. Das ist alles. Okay, ganz so steil war die These vielleicht nicht. Beruhigen wir uns erstmal wieder. Auf diese sehr sachte These können wir uns sicherlich beide einigen: Macht es keinen Spaß, macht man beim Rollenspiel etwas falsch. Abgesehen davon ist alles alles richtig, was Freude bringt.
Genau hier liegt aber der Hund begraben. Es gibt viele verschiedene Arten und Weisen, auf die man beim Rollenspiel Spaß haben kann. Und nicht jede davon wird von den verschiedenen Rollenspielsystemen gleichermaßen unterstützt. Genau wie das Alien Rollenspiel Sci-Fi-Horror unterstützt, aber kein Western-Steampunk, unterstützt jedes Rollenspiel unterschiedliche Arten, Spaß zu haben. Wenn du keine Lust auf Sci-Fi-Horror hast, dann solltest du nicht das Alien Rollenspiel spielen. Dasselbe gilt für andere Aspekte abseits des Genres: Wenn du nicht mit sehr vielen W6 würfeln möchtest, spiele besser nicht Shadowrun. Wenn du Low-Fantasy gegenüber High-Fantasy bevorzugst, spiele lieber nicht in den Forgotten Realms. Wenn du hauptsächlich Action und viele, taktische Kämpfe magst oder Lust hast, mächtige Held*innen zu spielen, dann solltest du dir gut überlegen, ob du die Einladung zur Call-of-Cthulhu-Runde wirklich annimmst.
Genau deshalb kann es sein, dass du mit DSA besser oder schlechter beraten bist, je nach deinen Vorlieben. Du spielst DSA nicht falsch, wenn du dich hier vertust, aber du wirst dann vermutlich nicht so viel Spaß haben, wie du vielleicht mit einem anderen Rollenspiel hättest, das besser zu dir passt. Umgekehrt gilt das genauso: Wenn die Stärken von DSA sich mit deinen persönlichen Vorlieben ergänzen, dann kannst du mit DSA maximalen Spaß haben.
Jetzt kommt der Clou: Ich behaupte, es gibt eine mögliche Vorliebe, die nur DSA bedient. Wenn du diese teilst, kannst du nur mit DSA so viel Spaß haben. Denn hier hat DSA ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Weltweit sogar – nicht nur in Deutschland – verwöhnt DSA seine Spielerinnen mit einem USP, ohne den ich persönlich nicht zufriedenzustellen bin.
Das Aventurische Alleinstellungsmerkmal
DSA hat allen anderen Rollenspielen eine Sache voraus, nämlich seine lebendige Geschichte. Dies beinhaltet, kurz zusammengefasst, drei Punkte:
- die Dichte der Weltbeschreibung
- die Veränderlichkeit der Welt
- die Möglichkeit, diese Veränderung am Spieltisch mitzuerleben
Es lohnt sich, auf jeden dieser Punkte einen Blick zu werfen.
1) Die Dichte der Weltbeschreibung
Man kann in die Welt Aventurien sehr weit hereinzoomen. Von oben kommend, sieht man verschiedene Länder, die aneinandergrenzen, und die alle in ihrem Setting klar voneinander zu unterscheiden sind: Um willkürlich einige herauszugreifen, sieht man dort das osteuropäisch inspirierte Bornland, das Mantel- und Degen-Setting des Horasreichs, das dekadente und brutale Sklavenhalter-Setting Al’Anfas, und natürlich das klassische (das heißt europäische) Mittelalter-Setting mit dem sprechenden Namen Mittelreich.
Zoomen wir näher ins Mittelreich herein, sehen wir seine Provinzen. Jede Provinz hat sein eigenes Flair und seine eigene Kultur. Und es gibt mehr als ein Dutzend davon.
Da ist das Herzogtum Weiden, eine Provinz, die klassisches Rittertum, kalte Winter und trutzige Burgen beheimatet. Da ist aber auch das friedliche Fürstentum Kosch, in dem es sehr gemütlich einhergeht. Hier wird hauptsächlich dem Handwerk gefrönt; es wird an alten Traditionen festgehalten; es wird nach getaner Arbeit der Feierabend bei einem Humpen guten Bieres verbracht.
Und das ist nur das oberflächlichste Kratzen an der Kultur. Festgelegt ist noch viel mehr. Etwa, dass man im Kosch gern „deftig gewürzte Speisen wie den Eintopf Albuminer Allerlei“ (Am Großen Fluss, S. 133) isst. Oder dass man bei Festen gerne zu Musik tanzt, die auf Blasinstrumenten und „Quetschbeuteln“ gespielt wird. Deine koscher Verwandten könnten Gero und Doride Schotterbier heißen.
Besuchst du hingegen Bärfried und Lanzelind Finsterbacher in Weiden, so stellst du fest: Minnesang und Lautenspiel sind hier die Musik der Wahl, aber neben Saiteninstrumenten werden auch einfache Holzinstrumente wie Flöten gefertigt, oder die kleine „Weidener Untertrommel“ mit ihrem dumpfen Ton. Zu Essen gibt es für die Wohlhabenden Fleisch aus der weidener Viehzucht, ansonsten viel Brot und Käse. Eine alte Tradition will es, dass Gästen in Weiden ein mit Knoblauch bestrichenes Brot gereicht wird, und damit hat sich der Besuch bei den Finsterbachers schon gelohnt.
Zoomen wir noch einmal vom Teller zurück, so stellen wir erneut fest, dass jede der mittelreichischen Provinzen so dicht beschrieben ist. Und das Mittelreich ist nur ein Land von vielen in Aventurien!
Wir können sogar noch weiter hineinzoomen: Unterhalb der Provinzen gibt es Grafschaften, Baronien, Junkertüme, Freistädte, und wasnichtnochalles.
Diesen Grad an Zoombarkeit wirst du in anderen Rollenspielen vergeblich suchen. Du findest größere Welten mit mehr Ländern und mehr Kulturen. Aber in diese kannst du nur selten so weit hineinzoomen. Mit Knoblauch bestrichenes Brot ist ein echtes Alleinstellungsmerkmal von DSA.
[An dieser Stelle ist mir ursprünglich eine kolossale Abschweifung unterlaufen. Ich habe diesen Punkt noch einmal überdeutlich betont mit einem Ausflug zur Koscher Verwandtschaft. Du kannst der Kürzungsschere danken, dass sie dich vor diesem Besuch bewahrt hat. Falls du aber neugierig statt dankbar bist, habe ich diesen Teil in einen eigenen Artikel ausgelagert: Besuch in Oberangbar.]
2) Die Veränderlichkeit der Welt
2.1 Fortlaufende Geschichtsschreibung
Das zweite Alleinstellungsmerkmal, das DSA auszeichnet, ist die Veränderlichkeit seiner Welt.
Während die „Dichte der Weltbeschreibung“ auch nur einen Ist-Zustand beschreiben könnte, meine ich mit „Veränderlichkeit der Welt“ den sogenannten Metaplot, also die fortlaufende Geschichtsschreibung Aventuriens.
Jedes irdische Jahr schreibt auch die aventurische Geschichte weiter.
- 1985 kam der Band Havena – Die große Stadt für Fantasy Rollenspiele heraus. Er beschreibt Havena um das aventurische Jahr 1000 BF.
- 1997 kam der Abenteuerband Tödlicher Wein heraus. Ebenfalls rund um das Jahr 1000 BF erleben Held*innen hier Abenteuer in Havena und lernen Leonardo den Mechanikus kennen.
- 2018 kam der Band Havena – Versunkene Geheimnisse heraus. Es beschreibt Havena etwa ab 1040 BF.
- 2019 kam das Abenteuer Eiserne Flammen heraus. Es spielt 1039 BF und Held*innen erleben hier das Ende von Leonardo.
Der Leonardo, den Held*innen in Tödlicher Wein kennengelernt haben, ist nicht mehr derselbe wie die düstere Gestalt in Eiserne Flammen. In den 40 aventurischen Jahren ist viel mit ihm passiert. Er hat sich entwickelt und ist kaum noch wiederzuerkennen. Aus einer recht fantasielosen Aventurisierung von Leonardo da Vinci wurde ein eigenständiger und tragischer Charakter.
Ähnlich – wenn auch weniger drastisch –ist es mit der Stadt Havena. Die Stadt hat sich in den 40 Jahren verändert. Immerhin war das Fürstentum Albernia – dessen Hauptstadt Havena ist – für einige Zeit ein selbstausgerufenes Königreich und in einen langen, blutigen Unabhängigkeitskrieg verwickelt.
Die aktuelle Stadtbeschreibung ersetzt nicht einfach die alten Beschreibungen, sie setzt sie fort. Dies gibt der Spielleitung tolle Möglichkeiten: Wer mehrere Stadtbeschreibungen besitzt und einige Unterschiede herausarbeitet, kann diese am Spieltisch erlebbar machen. So ist es leicht, den Spieler*innen zu vermitteln, dass die Havena eine lebendige Stadt ist.
Findet man beispielsweise ein Gebäude, das 1000 BF beschrieben ist, 1040 BF aber nicht mehr – oder umgekehrt ein Gebäude, dass in der aktuellen Stadtbeschreibung auftaucht, in der alten aber noch nicht – so ist dies eine gute Gelegenheit, dies an den Spieltisch zu transportieren. Sagen wir, 1000 BF gab es ein Stadt-Museum, aber keinen Rahja-Tempel und 1040 BF gibt es zwar den Tempel, aber das Museum wird nicht mehr erwähnt. Wer nun eine Kampagne spielt, die sich über mehrere aventurische Jahre erstreckt, der kann die SCs Havena im Jahr 1010 BF besuchen lassen und dabei das Museum beschreiben. Ein späterer Besuch der Stadt im Jahr 1030 BF führt die Held*innen dann zu einem leerstehenden Gebäude, in dem vormals das Museum war. Auf dem Platz gegenüber aber befindet sich eine Baustelle, auf der ein neuer Tempel errichtet wird…
[Auch an dieser Stelle hat die Kürzungsschere zugeschlagen. Die Veränderlichkeit der Welt habe ich an einem viel zu langen Beispiel vorgekaut: Ilsur und die Geschichte der Villa Frengammer. Wenn du Interesse an diesem Ausflug hast, kannst du in einem eigenen Beitrag mit mir Ilsur erkunden.]
2.2 Ist Veränderlichkeit wirklich ein Alleinstellungsmerkmal?
Andere Rollenspiele haben auch sowas wie eine fortlaufende Geschichte oder einen Metaplot. Und natürlich gibt es auch in anderen Systemen verschiedene Stadtbeschreibungen zu verschiedenen Zeitpunkten.
Beispiel Shadowrun:
- Das Seattle Sourcebook erschien 1990 und beschreibt Seattle im Jahr 2050.
- 1999 erschien New Seattle und beschreibt die Stadt im Jahr 2060.
- Seattle 2072 kam 2009 heraus.
Fortlaufende Updates von Regionalbeschreibungen sind also nichts Einzigartiges. Was macht das mit meiner These, DSA hätte mit seinem Metaplot ein Alleinstellungsmerkmal?
Diese Frage ist knifflig, das muss ich erstmal zugeben, vor allem da ich die Dichte der Weltbeschreibung schon als eigenen Punkt herausgestellt habe. Ich muss aufpassen, ihn hier nicht erneut anzubringen und zu behaupten, der Detailgrad der DSA-Regionalbeschreibungen sei größer, oder es gebe schlicht mehr verschiedene DSA-Regionalbeschreibungen als bei Shadowrun oder jedem anderen Rollenspiel. Beides ist wahr, ist aber nicht das, worum es bei der Veränderlichkeit geht.
Will ich hier also sagen, die aventurische Geschichte sei veränderlicher als die jedes anderen Rollenspiels? Ich glaube, das wäre eine hanebüchene These, von der ich auch nicht wüsste, wie man sie belegen sollte.
Genauso schwierig wäre die Behauptung, der Metaplot von DSA sei irgendwie besser als der anderer Rollenspiele.
Ich finde es tatsächlich schwierig, diesen Punkt in Worte zu fassen. Es hat etwas damit zu tun, wie ernst DSA seine fortlaufende Geschichtsschreibung nimmt. Bei den meisten anderen Rollenspielen wird die Geschichte nur dann fortgeschrieben, wenn es einen Editionswechsel gibt. Oder zumindest nur dann, wenn neue Regionalbeschreibungen herauskommen. DSA aber hat den Aventurischen Boten, der diese Aufgabe alle zwei Monate übernimmt.
Damit kann ich dieses Alleinstellungsmerkmal eigentlich am besten zusammenfassen: Nur DSA hat den Aventurischen Boten. Punkt.
3) Die lebendige Welt miterleben
3.1. Abenteuer, die die Welt verändern
Ganz eng verzahnt mit der Veränderlichkeit der Welt ist das nächste Alleinstellungsmerkmal: Die Möglichkeit, den Metaplot mitzuerleben.
Große Veränderungen finden in anderen Rollenspielen meistens nur während eines Editionswechsels statt. Und oft werden sie nicht erlebbar gemacht, sondern nur gesetzt. Dann erscheint eine neue Weltbeschreibung, in der steht, es hätte diese und jene Änderung gegeben. Aber ein Abenteuer oder eine Kampagne, in der Spieler*innen diese Veränderungen miterleben können, bleiben aus.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich sage, dies passiert in anderen Rollenspielen oft, nicht immer. Und ich werde nicht behaupten, DSA tue immer das Gegenteil und lasse Spielrunden an jeder Veränderung teilhaben.
Was ich behaupte, ist dass DSA ein Alleinstellungsmerkmal darin hat, wieviel lebendige Geschichte es den Spieler*innen zugänglich macht.
Spieler*innen können erleben, wie der Kaiser des Mittelreichs spurlos verschwindet. Sie können erleben, wie dunkle Horden über das Reich hereinbrechen und für Jahre Teile davon besetzen. Sie können erleben, wie Städte fallen, wie Landstriche verwüstet werden, wie Terrorherrschaften errichtet werden. Und irgendwann, viele Jahre später, können sie erleben, wie die Städte wieder aufgebaut werden, wie sich die verwüsteten Landstriche aus der Asche erheben, und sie können die Tyrannen stürzen. Held*innen können echte Veränderungen miterleben. Veränderungen, die die Geschichte Aventuriens fortschreiben und den Kontinent für immer zeichnen. Und das nicht nur zum Editionswechsel – quasi zum Staffelfinale – sondern in jeder größeren Kampagne.
Die Auswirkungen der weltverändernden Ereignisse werden dann in allen zukünftigen Publikationen berücksichtigt. Ist einmal gesetzt, dass eine Fliegende Festung auf die Hauptstadt des Mittelreichs stürzt, dann wird das nicht erst wieder in einem Nebensatz in einer Publikation zehn Jahre später erwähnt, sondern es wird in allen folgenden (und begleitenden) Aventurischen Boten darüber berichtet, es wird in zukünftigen Regionalbeschreibungen darauf aufgebaut, und es werden Abenteuer erscheinen, die sich mit den Spätfolgen dessen beschäftigen. Natürlich wird dies auch in den Romanen erwähnt, die es begleitend zum Rollenspiel gibt (hier hat DSA absolut kein Alleinstellungsmerkmal; diese Romane gibt es in jedem größeren Rollenspiel). Aber während man diese Romane liest, in denen Charaktere darüber jammern, was mit ihrer Hauptstadt passiert ist, kann man mitjammern und sagen: Ich. War. Dabei.
3.1. Ist die lebendige Welt wirklich ein Alleinstellungsmerkmal?
Mal wieder ist es das Maß, das den Unterschied macht, und zu einem Alleinstellungsmerkmal führt.
Auch in Shadowrun kann man Veränderungen miterleben. Aber wesentlich seltener und meist steht man nur am Rande der Ereignisse.
D&D hingegen hat eine ganz eigene Philosophie, die einen stärkeren Fokus darauf legt, dass jede Spielrunde in ihrer eigenen Version der Welt lebt. Man könnte sagen, D&D sei hier mehr Laissez-faire. Während der Kampagne könnte eine fliegende Festung auf die Hauptstadt fallen. Wenn das passiert, ist in deiner Version der Welt die Stadt kaputt. Vielleicht verhindern deine Held*innen das aber auch, weil sie einen wirklich guten Plan haben. Beides ist cool und mach dir keine Gedanken darüber, welches Ergebnis jetzt für die „offizielle“ Welt Kanon ist. Denn einen solchen Kanon gibt es nicht wirklich. Wenn die Stadt bei dir untergeht, aber in einer zukünftigen Publikation diese Stadt erwähnt wird, dann ist das nicht weiter wild. In deiner Spielrunde ignorierst du diese Stelle einfach, denn die Stadt ist bei dir nunmal kaputt.
Dieses „Ignorieren“ fällt bei DSA deutlich schwerer. Einerseits durch sowas wie die generelle Spiel-Philosophie oder Spiel-Kultur, die DSA umgibt. Andererseits hat eben DSA den Anspruch, die Ereignisse der Kampagnen sollen echte, spürbare Auswirkungen haben, und deshalb sind diese Auswirkungen wesentlich stärker mit Folgepublikationen verzahnt. So sehr, dass es schwierig wird, die Ereignisse zu ignorieren und trotzdem die Folge-Produkte nutzen zu können. Wenn in „meinem“ DSA keine dunklen Horden über das Mittelreich hereinfallen und über Jahre Teile davon besetzen, dann kann ich keine der Publikationen nutzen, die darauf aufbauen: Keine Regionalbeschreibungen des Mittelreichs und der dunklen Landstriche, keine Romane, die in den besetzten Landen spielen, und natürlich keine Folge-Kampagne, in der diese Tyrannen beseitigt werden.
Um das klar zu sagen: Weder die DSA-Philosophie noch die D&D-Philosophie, wie ich sie hier skizziert habe, sind inhärent der jeweils anderen überlegen. Beide sind aber deutlich voneinander unterscheidbar. Es ist wichtig, diese Unterscheidung zu treffen und zu identifizieren, was einem mehr liegt: Das stressfreie Laissez-faire von D&D oder das anstrengende, aber immersive Gesamterlebnis DSA.
Die Schattenseite des Metaplots
In diesem Artikel möchte ich DSA mit seinem Alleinstellungsmerkmal vor allem mal gründlich abfeiern. Mir ist aber auch wichtig, nicht den Eindruck zu erwecken, ich hielte alle anderen Rollenspiele deshalb für schlechter. Es geht darum, zu identifizieren, was einem Spaß macht, und dann das Rollenspiel zu wählen, das dies am besten unterstützt.
Für viele Leute dürfte DSA absolut nicht das richtige Rollenspiel sein. Und selbst für diejenigen, die sein Alleinstellungsmerkmal so abfeiern wie ich es tue, ist es manchmal ein Kropf. (Und wenn ich „manchmal“ sage, meine ich das vielleicht eher im Sinne von „fast ständig“.) Denn mit dem Grad an lebendiger Welt und fortlaufender Geschichte, den DSA bietet, kommt eine Schattenseite, die es in sich hat.
DSA macht sooooo viel Arbeit. Jedenfalls dann, wenn man aus DSA alles herausholen will, was man kann.
Erinnerst du dich an Kapitel 1 mit den kulturellen Unterschieden zwischen Weiden und dem Kosch? Das zu recherchieren hat länger gedauert, als ich gerne zugeben möchte. Dieser Grad an Recherche ist aber oft nötig, wenn man das beste aus dem Metaplot herausholen will.
Wenn ich das Abenteuer Eiserne Flammen leiten möchte, in dem es um das Schicksal Leonardos geht, dann ist es sinnvoll, das Abenteuer Tödlicher Wein zu lesen und zu überlegen, ob man dieses vielleicht als Vor-Abenteuer nutzt, um Leonardos Charakterwandel erlebbar zu machen. Eiserne Flammen spielt auch in einer Stadt, deren Geschichte man besser sehr gut recherchiert. Auch hier spielten schon einige Abenteuer, die sich als passende Vor-Abenteuer sehr gut anbieten. Aber herauszufinden, welche das sind, und ob diese was taugen, kostet Unmengen an Zeit.
Die lebendige Welt ist so stark in den Publikationen verzahnt, dass ich es nicht schaffe, irgendein Buch aufzuschlagen, ohne nach kurzer Zeit mindestens noch ein weiteres heranzuziehen und nachzusehen, wie dieses und jenes nochmal war.
Sehr wichtig ist es, hier zu erwähnen, dass die gesamte Recherche-Arbeit absolut unmöglich wäre, wenn es keine Wiki gäbe. Die Wiki Aventurica ist auch so ein Alleinstellungsmerkmal von DSA. Auch bei diesem ist es das Maß und die Qualität, die den Unterschied machen. Klar gibt es auch ein gutes Shadowrun-Wiki, aber das ist nicht ansatzweise so vollständig und gut recherchiert wie das DSA-Pendant. Hut ab – vor allem, wenn man bedenkt, dass die Wiki fanbetrieben ist und kaum offizielle Unterstützung erfährt.
Selbst mit der Wiki kostet die Recherche, die ich in die Vorbereitung eines Abenteuers stecke, drei Dinge:
- Zeit
- Nerven
- Geld
Zeit – das ist einfach die Schattenseite der Dichte der Weltbeschreibung. Die Recherche verschlingt beliebig viel davon.
Nerven – denn selbstverständlich passieren den Autor*innen der offiziellen Publikationen haufenweise Fehler. Das ist unvermeidlich und auch eine Folge der Dichte der Weltbeschreibung. Für die Recherche bedeutet das aber auch, dass man starke Nerven braucht, während man Widersprüche findet und sich durch diese hindurchbeißt.
Geld – klar ist es unglaublich cool, dass es verschiedene Stadtbeschreibungen Havenas oder Ilsurs gibt, mit deren Hilfe man erlebbar machen kann, wie sich die Stadt entwickelt. Aber um das nutzen zu können, muss man diese Publikationen erstmal besitzen. Und das geht tierisch ins Geld.
Klingt das für dich wie ein Alptraum? Dann ist DSA vermutlich nicht das Richtige für dich.
Die Kehrseite der Schattenseite des Metaplots
a) Komplett abnerden
Nach meiner Auflistung der Schattenseiten des Metaplots sollte man sich… sollte ich mich nochmal fragen, warum ich mir das überhaupt antue.
Bisher erwähnte ich vor allem die Immersion, die mir die Dichte der Weltbeschreibung, die fortschreitende Geschichte und die Erlebbarkeit der Welt erlauben. Was ich damit meine, ist, dass ich völlig in Aventurien versinken kann.
Ich kann – und ich habe – ganze Tage in Aventurien verbracht. Selbst wenn gerade keine Spielsitzung ist, kann ich mit den Romanen nach Aventurien reisen, mit den Regionalbeschreibungen eine Rundreise machen. Ich kann beliebig viel Zeit in die Recherche zur Vorbereitung eines Abenteuers stecken. Das kostet zwar Zeit, Geld und Nerven, aber habe ich erwähnt, dass es mir auch ungeheuer viel SPASS macht? Der ausgelagerte Ilsur-Teil hat mich zwar Stunden meines Lebens gekostet, aber die will ich nicht zurück. Die waren gut investiert.
Also: Wenn du bereit bist, Zeit in Recherche zu investieren – nicht nur als Spielleitung, sondern auch als Spieler*in bei der Charaktererschaffung – ja wenn du sogar Spaß daran findest, herauszufinden, dass der Vorsteher des Efferdtempels in Neersand aus der Brabaker Königsfamilie stammt, oder wenn du zufrieden aufatmest, sobald du herausgefunden hast, dass 1035 BF der Rahja-Tempel in Elburum noch eine Baustelle ist, die kurz vor ihrer Fertigstellung steht, dann bist du in Aventurien goldrichtig.
b) Weiße Flecken
Klar ist: DSA hat eine Fülle von Informationen und erfordert daher lange Recherchen. Das bedeutet aber auch: Würde DSA keine langen Recherchen erfordern, dann hätte es auch keine solche Fülle an Informationen. Dann gäbe es mehr weiße Flecken auf der Karte, die die Spielleitung selbst füllen müsste.
Das kann auch Spaß machen. Schließlich erlaubt dies mehr Kreativität als DSA dies tut. Und darin kann man auch unbegrenzt viel Zeit investieren. Aber genau diese Art Arbeit und genau diesen Zeitfresser erspart mir DSA.
Ich muss nicht besonders kreativ werden, wenn ich DSA vorbereite. Die Welt ist schon fertig. Abenteuer muss ich mir auch keine ausdenken, da gibt es schon genug. Ich muss nur noch Lücken füllen und Recherche betreiben. Das spart auch Zeit!
Diese Schattenseite des Metaplots – die zu investierende Zeit – relativiert sich, wenn man sie einer Welt gegenüberstellt, die weniger dicht beschrieben ist. Hier ist es also vor allem eine Frage des Geschmacks, worin man seine Zeit stecken möchte.
Was unterstützt DSA nicht gut?
Ich habe behauptet, man würde DSA nicht richtig spielen, wenn man auf die USPs von DSA keine Lust hat. Jetzt fasse ich nochmal zusammen, was keine USPs von DSA sind, oder besser: Was DSA gar nicht gut unterstützt. Wenn du hierauf Wert legst, solltest du dich also nach etwas Anderem umsehen.
a) Weltenbauen
Wer gerne im großen Stil kreativ werden möchte, der ist mit DSA nicht gut beraten. Möchtest du deine eigene Welt entwerfen mit ihrer eigenen Geschichte, mit selbsterdachten Kulturen und Konflikten, die du spannend findest? Lässt du deiner Fantasie gerne freien Lauf?
Vielleicht bist du wie der Youtuber Guy Sclanders von How to be a great GM.
Guy rezensiert Das Schwarze Auge in diesem Video (Link mit Zeitstempel zur entsprechenden Stelle). Er gesteht dabei: „I DISLIKE – with a great INTENSITY – premade worlds.“
Alles klar Guy, wenn das so ist, dann hast du völlig Recht, dass DSA nicht das optimale Rollenspiel für dich ist.
b) Abenteuer schreiben
Vielleicht willst du keine eigene Welt entwerfen, aber du schreibst gerne eigene Abenteuer? Auch dann würde ich dazu raten, dass du dich nicht auf DSA festlegst. Damit dein Abenteuer keine Widersprüche mit der bestehenden Weltbeschreibung verursacht, musst du viel Recherche betreiben. Und wenn du eine tolle Idee hast, die aber im engen Korsett von DSA nicht umsetzbar ist, zum Beispiel, weil die Position des Barons von Oberangbar nunmal feststeht, und du nicht einfach ein Königinnenreich aus Oberangbar machen kannst, dann beschneidet das deine Kreativität vermutlich eher, als dass es sie beflügelt.
Ich glaube, wenn du gerne selbst Abenteuer schreibst, bist du in Aventurien schnell gefrustet. Der Spaß, den du in Aventurien haben wirst, ist vermutlich kleiner als der, den du mit einem anderen System haben kannst.
Hast du zum Beispiel schonmal Numenera probiert? Das hat eine so dünne Weltbeschreibung, dass ich damit nicht glücklich werde, aber dafür steckt es voller witziger Ideen und hat vor allem ein Regelwerk, das wirklich genial ist. Schnell gelernt, schnell ausgeführt, und dabei macht es tatsächlich Spaß.
Vielleicht willst du auch ganz weg vom vorgegebenen Metaplot und hättest mehr Spaß an einem ergebnisoffenen Erzählrollenspiel. Dann könnte Brindlewood Bay das Richtige für dich sein.
c) Sparsamkeit
DSA ist ein teures Hobby. Es entfaltet seinen vollen Reiz erst dann, wenn man auf einen großen Bestand an Publikationen zurückgreifen kann, die alle miteinander verzahnt sind. Wenn du dir das nicht leisten kannst, gibt es wesentlich geldbörsenschonendere Rollenspiele da draußen.
Wäre es nicht toll, wenn ich einen Artikel geschrieben hätte zum Thema: Die besten kostenlosen Rollenspiele? Dann könnte ich den hier verlinken. Aber zumindest 5-min workday gibts für umme.
d) Freude am Regelsystem
Das Regelsystem hinter DSA ist eine Katastrophe, und zwar egal, um welche der fünf Editionen es geht.
Okay, ich versuche es nochmal weniger negativ: Das Regelsystem von DSA ist traditionell eher auf der komplexen Seite und neigt dazu, schwerfällig zu sein.
Ich habe fast zehn Jahre regelmäßig DSA4 gespielt. Trotzdem musste ich an jedem Spieltermin noch Regeln nachschlagen. Es gibt zahlreiche Systeme, die dies besser handhaben. Wie wärs zum Beispiel mit Mörk Borg?
Was unterstützt DSA sehr gut?
DSA ist das richtige für dich, wenn du
- gerne Recherche betreibst,
- es liebst, auf eine Vielzahl an Publikationen zurückzugreifen,
- vollständig in einer fiktiven Welt versinken willst,
- die Entwicklung der Welt miterleben möchtest.
Gerade der letzte Punkt bedeutet aber auch:
DSA lebt durch seine Kampagnen.
Die Kampagnen und die Einzelabenteuer, die Auswirkungen auf den Metaplot haben, sind das, worauf du dich konzentrieren solltest, wenn dich die Alleinstellungsmerkmale von DSA ansprechen.
Einzelabenteuer ohne Metaplotanteil findest du überall anders auch. Abenteuer selbst schreiben kannst du in anderen Systemen mit weniger Frust (und hast dann vermutlich noch ein spaßigeres Regelwerk).
Mitzuerleben, wie Leonardo nach vierzig aventurischen Jahren sein Ende findet – das kannst du so nur in DSA.
Deine Spielrunde trifft sich nur vier mal im Jahr? Dann sind Einzelabenteuer mit episodenhaftem Stil eher etwas für euch als die Borbaradkampagne.
Deine Freunde sind Vollblutnerds und ihr trefft euch einmal die Woche? Dann schnapp dir eine der Kampagnen, recherchiere, welche Vor-Abenteuer das gut ergänzen, und macht euch auf eine lange und epische Queste. Findet heraus, was es mit den Birscha-Rollen auf sich hat, oder macht den Silberberg unsicher. Ihr werdet es nicht bereuen.
Tipps, wie man ein Kauf-Abenteuer oder eine Kampagne vorbereitet, findest du im verlinkten Blog-Beitrag.
Es gibt kein anderes Rollenspiel, das so lebendig und miterlebbar ist wie DSA. Nicht in Deutschland, auch nicht im Rest der Welt. Hier steht DSA an der einsamen Spitze. Bei all seinen Schwächen – ich erwähnte das Regelsystem und beschwerte mich in der Vergangenheit über kryptische Passagen oder Fälle, in denen die DSA-Autoren komplett versagt haben – es gibt kein anderes Rollenspiel, das die Stärken von DSA hat!
Nutzt DSA seine Stärken voll aus?
Hahaha. Nein. Überhaupt nicht. Mit dieser Frage könnte ich ein ganzes Forum voller griesgrämiger Meckereien über DSA, die Strategie der Redaktion, und tausende andere Wehwehchen füllen. Das erspare ich hier allen Beteiligten.
Natürlich versucht DSA, so viele Spieler*innen wie möglich anzusprechen. Deshalb gibt es auch hier viele Einzelabenteuer, die nicht die Welt verändern. Es gibt sogar ganze Kampagnen, die kein Stück zur lebendigen Geschichte beitragen.
Aber ich plädiere für Folgendes: DSA sollte sich seiner Stärken bewusst werden und vor allem auf diese setzen. Alles andere könnt ihr genauso gut der Konkurrenz überlassen, dann hat die auch ein Stück vom Kuchen. Der Kuchen, den ihr backen könnt, wenn ihr nur wollt, den bekommt sowieso niemand außer euch hin!
Als Alternative zum DSA-Regelwerk lohnt sich ein Blick auf „Ilaris“. Das wurde genau dafür entwickelt und unsere Runde hat es wohlwollend aufgenommen.
Ich hab schon lange vor, da mal reinzuschauen. Deckt Ilaris denn alle bekannten Zauber und Liturgien ab?
Ein toller Beitrag! Schade, dass ich ihn mittendrin abbrechen musste, weil er Sterne enthält.
Ja, das ist sehr schade.
@Jan,
wir warten immer noch auf die Onlinestellung deines Würfelregelwerks. 😀
Schöner Beitrag – ich habe die ganze 4. Edition durch sehr intensiv DSA gespielt, was mir an deinem Artikel noch fehlt, ist die Conclusio: das ganze Engagement, das man ins „Lernen“ des detaillierten Hintergrunds steckt, in Kombination mit der lebendigen Geschichte, erzeugt ein ganz bestimmtes Gemeinschaftsgefühl, sowas wie die Illusion, dass „alle auf der gleichen Welt spielen“. Ist schwierig zu beschreiben, aber Aventurien bekam dadurch eine eskapistische Qualität und „ontologische Eigenständigkeit“, die mAn in gering beschriebenen (und meist kurzlebigeren) Welten einfach nicht zu bekommen ist.
Das ist auch der Punkt, den Außenstehende oft nicht sehen oder nachvollziehen konnten und deswegen DSAler gern für etwas bescheuert gehalten haben, so war’s zumindest früher. Der DSA-Kosmos ist so reichhaltig, dass er reicht, um seine ganze Hobbyaktivität reinzustecken und sich völlig ausgelastet zu fühlen und „nix anderes zu brauchen“.
Du hast Recht, es fehlt ein Abschnitt über das Gemeinschaftsgefühl, das einzelne Spielgruppen transzendiert. Es gibt einen großen Unterschied, wenn man sich mit anderen RollenspielerInnen unterhält, ob man über die individuelle Welt der eigenen Spielgruppe erzählt, oder sich über die Welt Aventurien austauscht, die alle gemeinsam haben. Da steckt viel drin – vielleicht reiche ich das mal als eigenen Artikel nach.
Die Feststellung, dass die Regeln zu den Schattenseiten von DSA gehören, kann ich nur unterschreiben. Wenn man DSA spielt, dann wegen Aventurien und wohl kaum wegen des kompromissverzerrten, stellenweise wenig durchdachten und zähen Systems. Die Weisheit „Welt hui, Regeln pfui“ gilt für mich quasi durchgehend seit der zweiten Edition.
Deiner Feststellung, dass der Grad an Detailfülle und -tiefe Aventuriens sowie die besonders intensive „Miterlebbarkeit“ von Weltentwicklungen DSA-Alleinstellungsmerkmale sind, stimme ich zu. Persönlich sind diese Aspekte aber nur zum Teil der Grund, warum ich immer wieder gerne (allerdings mit anderen bzw. eigenen Regeln) in Aventurien spiele. Am wichtigsten an Aventurien ist mir sein ganz besonderer Fantasy-Stil und -Flair: eine ganz besondere Mischung aus Mittelalter, früher Neuzeit, Low-Magic- und High-Magic-Elementen gleichermaßen, Tolkien, D&D-Fantasy und europäischem Märchengut.
Wenn ich in Aventurien spielleite, weiß ich als SL die Informationsdichte sowohl der offiziellen Produkte sowie der zahlreichen semioffiziellen Quellen wie natürlich der Wiki Aventurica sowie der diversen Regionalwikis zu schätzen. Darin zu recherchieren und passende „Nischen“ für meine eigenen Abenteuer und Kampagnenkonzepte zu finden, finde ich immer wieder spannend und auf angenehme Weise kreativ herausfordernd.
Mit welchen Regeln spielst du denn in Aventurien? Mich interessieren immer gute Alternativen zur 3W20-Probe. (Ich selbst nutze ein „2W6+Talentwert gegen eine Zielzahl“-System, das niemand kennt.)
Für das Spiel in Aventurien nutze ich meistens ein speziell für diesen Zweck geschriebenes Regelwerk, das ich „Heldenzeit“ nenne. Es hat einen vollständig einheitlichen Würfelmechanismus, der auf vergleichenden 1W20-Proben basiert — und zwar sowohl bei Talenteinsatz, im Kampf und beim Zaubern. Ich verzichte dabei auf so schwerfällige Konzepte wie die traditionelle „AT-/PA-Reihenschaltung“ und die 3W20-Probe.
Das klingt spannend. Falls du das mal online stellst, gib mir gerne bescheid.