Vorfreude ist die schönste Freude
Während ich dieser Volksweisheit nur bedingt zustimme, steckt in ihr doch eine wichtige Erkenntnis. Eine, die auch fürs Rollenspiel relevant ist.
Ich stimme der Volksweisheit nur bedingt zu, weil es offensichtlich schönere Freuden gibt. Etwa die Schoko-Crossie-Freude, die Newsletter-Freude oder die Freude, die es bereitet, wenn ein kleines Haustier auf deinem Schoß einschläft und so laut schnarcht, dass du dein Telefongespräch abbrechen musst.
Abgesehen davon ist Vorfreude aber auf jeden Fall ganz weit oben auf dem Siegertreppchen der erfreulichen Gefühle. Und hier kommen wir zur wichtigsten Prämisse dieses Blogbeitrags. Denn eine andere Freude findet auf diesem Siegertreppchen keinen Platz, oder wenn doch, dann nur einige Stufen weiter unten:
Vorfreude ist schöner als die Freude, überrascht zu werden.
Ein wesentliches Indiz dafür liefert folgender Sachverhalt. Die Frage: „Magst du Überraschungen?“ ist üblich und wird regelmäßig gestellt. Die Antwort darauf ist nicht selbstverständlich.
Die Frage: „Magst du Vorfreude?“ hingegen ist unüblich. Sie scheint mir auch ungefähr so interessant wie die Frage: „Hast du gerne Spaß?“
Daraus schließe ich: Überraschungen zu mögen ist nicht selbstverständlich. Vorfreude zu mögen schon.
Sind Überraschungen egoistisch?
Bevor ich diesen Artikel rollenspielrelevant mache, hier noch eine allgemeine Überlegung zu Überraschungen.
Ich wollte eigentlich als unstrittige Prämisse etablieren: „Überraschung und Vorfreude schließen sich aus.“
Aber dann fiel mir auf, dass das nur in einer Hinsicht wahr ist. Nämlich in folgender:
Wenn du eine Überraschung für jemanden planst, nimmst du dieser Person die Chance, Vorfreude aufzubauen.
Aber das gilt nicht für dich, der du die Überraschung planst. Für dich gilt:
Wenn du eine Überraschung für jemanden planst, hast du allein die Chance auf Vorfeude.
Aus diesen beiden Sachverhalten ergibt sich eine interessante Erkenntnis: Wenn du planst, jemandem eine Freude zu machen, und nun überlegst, ob du das als Überraschung aufziehen willst, oder ob du es vorab ankündigst, musst du dich entscheiden, ob dir deine eigene Vorfreude wichtiger ist als die Vorfreude der Person, der du eine Freude machen willst.
Bestimmt gibt es auch andere wichtige Überlegungen, die du anstellen kannst, um eine Entscheidung zu treffen. Aber die Frage, wessen Vorfreude dir wichtiger ist, gehört unabänderlich dazu.
So viel zum Thema Vorfreude vs. Überraschungen. Kommen wir zum zweiten Kernthema, der Verderbnis aller Überraschungen: Spoiler.
Spoiler ruinieren Überraschungen
Spoiler haben sich einen sehr schlechten Ruf verdient. Zurecht, wie ich finde.
Mir wurde der Plottwist in Fight Club gespoilert, bevor ich den Film sah. Deshalb gehöre ich zu den wenigen Menschen, die dieser Kultfilm nicht begeisterte. Ich hatte nie die Chance, in Fight Club einen neuen Lieblingsfilm zu entdecken. Darüber bin ich heute noch angefressen.
Das schreibe ich, um zu verdeutlichen, dass ich die allgemeine Abneigung gegen Spoiler nicht nur verstehe, sondern teile.
Aber ich denke auch: Spoiler sind nicht immer schlecht. Denn…
Spoiler ermöglichen Vorfreude
Manchmal sind Spoiler gut, denn sie ermöglichen es, Vorfreude aufzubauen. Du wirst von bestimmten Dingen nicht mehr überrascht, aber dafür kann deine Neugier geweckt werden, wie es zu dem Ergebnis kommen wird, das du schon kennst.
Ich gebe mal drei Beispiele, in denen Spoiler angebracht sind. Damit ich nicht in die Falle tappe, hieraus einen reinen Trad-Game-Ratgeber zu machen, wähle ich je ein Beispiel pro Rollenspiel-Gattung.
Trad-Games: Das Jahr des Feuers (DSA)
Wer eine große DSA-Kampagne spielt, sollte vorher grob wissen, worum es geht und wo sie spielt. Wenn eine Seefahrtskampagne ansteht, ist es sinnvoll, Charaktere zu bauen, die zur See fahren, oder denen Seefahrt irgendetwas bedeutet. Außerdem kannst du dich so schonmal in Stimmung für das Genre bringen.
Wenn du das Jahr des Feuers spielen willst, solltest du mindestens wissen, dass es im Mittelreich spielt.
Als ich Spieler in dieser Kampagne war, wusste ich aber vorab noch mehr: Ich wusste, dass das Mittelreich in Flammen stehen würde; ich wusste, dass die Hauptstadt Gareth in Ruinen enden würde; und ich wusste, dass der Albernia-Nordmarken Konflikt eine Rolle spielen würde.
Also spielte ich einen in Gareth ansässigen Verwaltungsangestellten aus dem albernischen Haus Bennain. So konnte ich gezielt eine Hass-Liebe zur Stadt aufbauen, war mit der Politik des Mittelreiches vertraut und in sie verwickelt. Das Ergebnis: Mein Held war maßgeschneidert für die Kampagne. Er war nicht Held X, der in Abenteuer Y steckte, sondern er war Sidhric ui Bennain, dessen Lebensgeschichte wir erlebten.
Jeder Spoiler, den ich zur Kampagne hatte, machte diese nur besser für mich.
Der Teil mit der Verwüstung Gareths hätte eine unangenehme Überraschung werden können. Dass ein dicker Brocken auf Gareth fällt und die Held*innen das nicht verhindern können, birgt unglaublich viel Frustrationspotential. Ich aber konnte mich auf diesen Moment vorbereiten und ihn so richtig genießen. Spannend war er außerdem immer noch.
Erzählrollenspiele: Horror und Grusel (Brindlewood Bay)
Brindlewood Bay vermischt cozy crime mit cthulhuidem Horror.
Die Spieler*innen wissen von Anfang bescheid über die anstehenden Horror-Elemente. So ist das jedenfalls gedacht.
Natürlich könnte man auf die Idee kommen, den Spieler*innen nichts davon zu erzählen, und sie mit der finsteren Verschwörung zu überraschen. Denn wenn sie unerwartet kommen, wirken die Grusel-Elemente stärker.
Auf den ersten Blick keine schlechte Idee, aber auf jeden weiteren Blick absolut unangebracht.
- Du solltest niemanden mit Horror-Elementen überraschen,
- du brauchst Konsens für Horror-Elemente,
- du solltest keinen Etikettenschwindel betreiben, denn das enttäuscht Erwartungen („In meiner Kampagne gehts um Genre X“ – während es in Wahrheit Genre XY ist).
Das sind nur die offensichtlichsten Gründe, das Genre offenzulegen. Weniger offensichtlich ist: Die Argumente, die für eine Überraschung sprechen, fußen auf einer falschen Prämisse: Grusel-Elemente im Rollenspiel wirken nicht stärker, wenn sie unerwartet kommen.
- Nichts ist so gruselig wie das, was du dir in deiner Fantasie ausmalst. Das können SLs nutzen. Denn niemand gruselt die Spielenden so sehr wie ihr eigenes Unterbewusstsein das schafft. Je länger das Unterbewusstsein Zeit hat, sich etwas Schlimmes auszumalen, desto effektiver wird es.
- Kennst du das, wenn du eine gruselige Stimmung erzeugen möchtest, aber deine Spieler*innen lassen sich nicht drauf ein und albern nur herum? Wenn du sie mit Grusel-Elementen überraschst, brauchst du dich darüber nicht zu wundern. Aber wenn von vorneherein klar ist, welches Genre bespielt wird, können die Spielenden sich selbst in die richtige Stimmung bringen.
OSR: Weltuntergangsstimmung (Mörk Borg)
In Mörk Borg geht die Welt unter. Das steht unabänderlich fest.
Stell dir vor, du würdest das deinen Spieler*innen nicht vorher mitteilen. Beim siebten Unheil, das du erwüfelst, würdest du einfach sagen: „Ihr seid alle tot. Die ganze Welt ist tot. Ende der Kampagne. Geil, oder?“
Nö.
Mein Plädoyer: Wage mehr Spoiler!
Leichte Spoiler sind was Gutes.
- Sie ermöglichen es, die Vorfreude anzuheizen.
- Sie geben Gelegenheit, in die richtige Stimmung zu kommen.
- Sie helfen, die Erwartungen aller Spielenden abzuklären.
Und was auch richtig gut ist:
- Inhaltshinweise oder Content Warnungen sind wichtig, damit Spieler*innen die Möglichkeit haben, nein zu sagen. (Siehe auch: Lines & Veils.)
Ja, Inhaltshinweise sind notwendigerweise kleine Spoiler. Aber das ist nicht schlimm – weil kleine Spoiler nicht schlimm sind, sondern nützlich.
Also:
- Wenn du die Spielleitung bist, scheue dich nicht davor, kleine Spoiler an deine Spielrunde auszuteilen. Das, was du dadurch verlierst, ist kleiner als das, was du hinzugewinnst.
- Wenn du Spieler*in bist, hab keine Angst vor Spoilern, sondern nutze sie, um dich aufs Rollenspiel vorzubereiten – mental und beim Erstellen deines Charakterkonzepts.
- Der ideale Zeitpunkt, um zu spoilern, ist die Session 0.
Ich finde es fast noch spannender, zu erfragen, welche Spoiler denn gut sind und welche schädlich für den Genuss eines Rollenspiels. Dem Grundargument stimme ich natürlich zu (auch wenn mir gruselt, wie es wohl auf facebook aussieht), aber abgesehen von persönlichen Präferenzen scheint es einen prinzipiellen Unterschied zu geben Plottwists wie Katastrophen (Gareth in Flammen! Horror-Verschwörung in Bridlewood!) zu spoilern und beim Krimi-Spiel die Mörder*in zu verraten. Meine Frage ist: Gibt es essentielle Überraschungen in Rollenspielen? Was zeichnet sie aus?
Das sind gute Fragen. Ich werfe dazu einfach mal Spaghetti an die Wand und schaue, was kleben bleibt:
Essentielle Überraschungen sind solche, bei denen das gesamte Abenteuer nicht funktioniert, wenn die Spielenden die Überraschung kennen.
Der Lackmustest wäre also die Frage: „Wenn diese Überraschung keine mehr ist, kann ich das Abenteuer dann noch leiten?“
Beispiele… Zu wissen, dass eine Auftraggeberin die SCs betrügen wird, ist nicht essentiell. Da kann man sich drauf einlassen und drum herum spielen. Wenn man schon genau weiß, *wie* die Auftraggeberin der Gruppe später in den Rücken fällt, wird es schwieriger.
Unmöglich dürfte es sein, wenn man bei einem Mordfall schon den Täter, das Motiv und den Tathergang kennt.
Je länger ich über Beispiele nachdenke, desto mehr drängt sich mir die These auf, dass vor allem die Menge der Spoiler den Ausschlag gibt. Vielleicht kann jede einzelne Überraschung verdorben werden, ohne dass das Abenteuer unspielbar wird. Aber je mehr Spoiler es werden, desto unspielbarer wird das Ganze.
Wenn das stimmt, gibt es keine unterschiedlichen Arten von Spoilern (= essentielle, nicht-essentielle), sondern nur unterschiedliche Grade des Spoilerns.
Was denkst du dazu?
Nice one
Schöne philosophische und inspirierende Überlegung. Habe ich gleich umgesetzt. Danke, Florian!