Schau mal, ich habe mir das hier zugelegt:
Dieses Rollenspiel sieht saumäßig cool aus. Die Idee ist: Man spielt einen Horror-Film nach. So einen, den man in der Videothek ausgeliehen hat. Oder einen, der in einer selbstbeschrifteten Videokassette kommt, von der man nicht mehr weiß, woher man sie hat. Das Produkt gibt es in mehreren Geschmacksrichtungen: Slasher-Filme, Sci-Fi-Horror oder Übersinnliches in den 1930ern. Ich habe mich für letzteres entschieden.
Das Konzept spricht mich an. Filme rollenspielerisch nachzuerzählen macht mir Spaß. Ich liebe ja auch Fiasko und Pasión de las Pasiones. Da macht man dasselbe. Liebe für VHS-Ästhetik und Horrorfilme habe ich ebenfalls. Dann passt ja alles.
Außer das Spiel. Das passt einfach nicht, so cool es auch aussieht.
Wenn man nichts Gutes sagen kann, sollte man Schweigen, oder?
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, keine Verrisse zu schreiben. Es sei denn, es geht um große Verlage. Und selbst da ist mir klar, dass hinter den Publikationen oft Menschen stehen, die in ihrer Freizeit arbeiten und viel Herzblut in die Produkte stecken.
Trotzdem: Ich habe viel Geld für dieses Produkt ausgegeben und bin enttäuscht.
Selbst eine Internet-Recherche hätte mich davor nicht bewahrt. Denn es hat auch sonst niemand eine kritische Rezension geschrieben. Ich habe nur ein einziges ehrliches Review gefunden, das auf Schwächen der Übersetzung eingegangen ist. Kurioserweise gibt es da trotzdem ein positives Fazit. Das liest sich aber äußerst halbseiden. Schnell und schlecht übersetzt steht da: „VHS Horror ist nur was fürs Regal. Aber das ist vielleicht gar nicht schlimm, wenn man bedenkt, wie selten die meisten von uns es wirklich schaffen, die vielen Rollenspiele zu spielen, die wir uns kaufen.“
Puh, da möchte ich so hart wiedersprechen, dass es die Grenze von Zeit und Raum durchbricht.
Ein deutlicher Verriss hat vielleicht doch seinen Nutzen.
Kritik 1: Die Form
Das, was in VHS schief läuft, lässt sich in zwei grobe Kategorien aufteilen: Form und Inhalt.
Bei der Form geht es mir darum, wie gut das Spiel aufbereitet ist. Und beim Inhalt geht es mir darum, ob das Rollenspiel Spaß macht.
Ich beginne mit der Form, denn die macht es mir schon so richtig schwer, zum Inhalt durchzudringen. Hier geht absolut alles schief, was schiefgehen könnte.
Una cattiva Übersetzung
Sobald du beginnst, dich in das Regelwerk einzulesen, wirst du feststellen: Es ist aus dem Italienischen übersetzt, und zwar schlecht.
- Da sind Sätze drin, die grammatikalisch nicht aufgehen,
- Sätze, die vollerVollmit vollFehler sind,
- Sätze, die umständlich formuliert sind, (keine Ahnung, ob die Autoren auch im Original so ungelenk schreiben, oder ob das in der Übersetzung passiert ist. Ich vermute fast, es ist ersteres),
- mindestens ein Absatz, der gar nicht übersetzt wurde,
- Regel-Begriffe, die inkonsistent übersetzt wurden. (Zum Beispiel heißt ein Wert an manchen stellen Instability, an anderen hingegen Insanity.)
Hier ein Beispiel, in dem die Würfelmechanik erklärt wird:
When asked to roll, unless otherwise specified, roll two 6 sided dice and add them together. If the result is equal or lesser than the target number (whether this target is a Parameter, the Tension Level of an Area, and so on), the roll is succesful, otherwise it fails and whatever action that rolled decided the result of does not happen.
Solche Sätze finden sich nicht im Buch verstreut, sondern sie reihen sich fast durchgehend aneinander. Auch wenn es nicht unmöglich ist, das Geschriebene zu verstehen, macht es das auf Dauer doch unfassbar anstrengend. Das ist eine Hürde, die ich wirklich nicht brauche.
Unübersichtlich³
Den schlechten Schreibstil finde ich ärgerlich, aber ich kann darüber hinwegsehen. Das Spiel kann ja trotzdem richtig geil sein und viel Laune machen.
Schwieriger ist folgender Punkt:
Das Regelbuch ist absolut unübersichtlich.
- Das Inhaltsverzeichnis ist nicht auf der ersten Seite, sondern auf Seite 9.
- Es gibt keinen Index.
- Die Regeln werden ausschließlich im Fließtext erklärt. Übersichten und Kurzzusammenfassungen gibt es nicht.
- Das Regelbuch zählt fast 200 kleingedruckte Seiten.
Wieviel Arbeit auf die SL (pardon: auf die Directors) zukommt, erläutere ich am besten an einem Beispiel.
Beispiel: Monster Equipment
Jedes Monster hat ein eigenes Handout: Eine Karte, auf der ein sehr gelungenes Bild des Monsters ist, seine Hintergrundbeschreibung inklusive Name des Schauspielers. Auf der Rückseite befinden sich die Werte des Monsters.
Das klingt erstmal großartig. Aber leider ist dort nicht alles drauf, was ich bräuchte, um das Monster verwenden zu können, ohne im Buch nachschlagen zu müssen. Und das schlimmste daran: An diesen Stellen stehen keine Seitenzahlen, die mir das Nachschlagen vereinfachen würden.
Beim Monster The Workaholic sehen wir zum Beispiel sein Equipment. Dort steht: „Demonic Lymph [1]“.
Da ich nicht auswendig gelernt habe, was das ist, muss ich nachschlagen. Ohne Seitenverweis und ohne Index bin ich auf Seite 9 angewiesen, die mich auf Seite 102 verweist. Ich verpasse dabei Seite 88, die ein paar allgemeine Erklärungen über Monster Equipment beinhaltet, zum Beispiel, wie schnell ein Monster das Equipment einsetzen kann. Aber das ist so vage beschrieben, diesen Abschnitt bräuchte ich wirklich nicht.
Also auf zu Seite 102. Direkt gegenüber, auf Seite 103 finde ich dann auch den Demonic Lymph. Der regeneriert Wunden. Aha. Scheint mir wichtig. Vielleicht wäre es sinnvoll, mir das vor dem Spiel rauszuschreiben, damit ich nicht während der Session blättern muss. Vielleicht auf eine Karteikarte. Aber Moment mal! Genau dafür war doch das Monster-Handout da!
Zwischenfazit: Keine Lust mehr
An diesem Punkt habe ich resigniert. Um VHS testspielen zu können, müsste ich eine Zusammenfassung der Regeln des Spiels schreiben, in eigenen, verständlichen Worten. Diese müsste ich dann halbwegs übersichtlich darstellen. Das kostet mehr Zeit und Mühe, als ich noch Motivation habe. Außerdem frustriert es mich, dass genau dies die Arbeit ist, die ich mir nicht machen möchte, wenn ich ein fertiges Produkt kaufe.
Trotzdem: Nur weil das Spiel unzugänglich aufbereitet ist, heißt das nicht, dass das Spiel schlecht ist. Ich habe nur keine Lust mehr, das herauszufinden. Das, was ich vom Inhalt mitbekommen habe, verspricht mir allerdings auch keine Wunder.
Kritik 2: Der Inhalt
Erst mal was grundsätzlich positives. Es gibt eine gute Antwort auf die Frage:
Warum könnte man VHS spielen wollen?
Das kuriose Fazit des eingangs verlinkten Reviews hat mit einer Sache absolut Recht: VHS sieht unglaublich schön aus. Rein optisch macht das alles richtig. Das ist aber nicht nur ein Pluspunkt fürs Regal. Denn ein derartig schönes Design bringt einen praktischen Nutzen an den Spieltisch: Es hilft, alle Mitspielenden abzuholen und sie ohne große Umwege in die richtige Stimmung zu versetzen.
Das ist ein guter Grund, warum man VHS spielen will: Die Verpackung allein sorgt dafür.
Brettspiel vs Film
Okay. Die richtige Stimmung ist da. Alle wollen rollenspielerisch einen Horror-Film auf Video erleben. Eine Person hat sich aufopferungsvoll durch die Regeln gekämpft und erklärt diese. Aber dann geht die Atmosphäre flöten, denn:
Das Ding ist brettspielig wie sonst noch was.
Rollenspiele mit Brettspiel-Einfluss haben oft das Problem, dass die Brettspiel-Elemente dem Rollenspiel im Weg stehen. Hier wird aber noch eine Schippe draufgesetzt: Die Brettspiel-Elemente stehen dem Nacherzählen eines Films im Weg.
Der core game loop (so wie ich ihn verstanden habe) ist folgender:
- Du betrittst einen neuen Ort und suchst dort Gegenstände,
- vielleicht wird an diesem Ort ein Schrecken ausgelöst.
- Du betrittst den nächsten Ort und suchst dort Gegenstände,
- vielleicht wird an diesem Ort ein Schrecken ausgelöst.
- …
Frage an dich: In welchem Horrorfilm geht es darum, dass die Protagonisten tonnenweise Items horten? Mir fällt keiner ein.
Fazit
Das VHS RPG krankt an drei Stellen:
- Das Regelwerk ist unzgänglich erklärt,
- im laufenden Spiel eine Information wiederzufinden, dauert zu lange,
- die Regelmechaniken unterstützen weder Film noch Rollenspiel.
Damit kann ich Very Horror Stories nur noch ins Fehlkauf-Regal stellen.
Das tut mir leid. Nicht nur wegen des verschwendeten Geldes. VHS ist auch alles andere als lieblos. Vieles spricht dafür, dass jemand viel Arbeit und Liebe in dieses Produkt gesteckt hat. Nur leider garantiert viel Arbeit nicht, dass ein Ergebnis dabei herauskommt, das diese Arbeit auch wert ist.
Diese Rezension hat drei alternative Enden:
- Wenn du Bock hast, dir VHS als Deko-Artikel zuzulegen, weil es extrem geil aussieht, dann mache das. Das Ding ist ein echter Hingucker.
- Wenn du Lust hast, VHS-Horror als Rollenspiel zu erleben, dann empfehle ich Public Acces. Oder andere Horror-Rollenspiele mit zugänglichen Regeln – davon gibt es eine Menge.
- Wenn du Lust hast, VHS-Horror als Brettspiel zu erleben, dann… schau mal auf Google. Wenn du was findest, komm bitte zurück und lass mir einen Kommentar da. Würde mich auch interessieren.
1 Kommentar zu Rezension: VHS – Very Horror Stories – Unchained